Und wieder die Frage nach dem cui bono

DSC_2779Es war das erste Mal, dass ich Angst hatte, auf eine Demonstration zu gehen. Wohlgemerkt: Ich hatte Angst vor der Brachialgewalt der Polizei, die von Anfang an wenig Unterschied machte zwischen friedlichem Demonstrant und Randalierer. Das war mein Gefühl – und ich bin fest davon überzeugt, dass es geplant war, dass ich (und natürlich nicht nur ich) dieses Gefühl der Angst haben sollte.

Schon im Vorfeld des Gipfels polterte die Polizei und unterstrich mit ihrer „Hamburger Linie“, dass es keine Gnade gegen niemanden geben würde. Schon Tage vor dem Gipfel ging die Polizei mit einer Aggressivität und Gewaltbereitschaft gegen Demonstranten und Aktivisten vor, die zumindest ich in dieser Form noch nicht erlebt habe. Und: die Polizei hat bei den geplanten Camps erst einmal Fakten geschaffen und sich über die Rechtsprechung hinweggesetzt – weil sie ein eigentlich klares Urteil einfach anders interpretierte. Gleichzeitig wurde die Arbeit von Anwälten der Gipfelgegner behindert.

Dieser polizeiliche Frontalangriff auf die Rechtsstaatlichkeit und auf unsere Grundrechte führten bei mir und bestimmt auch bei manch anderem zu einer trotzigen Jetzt-erst-recht-Reaktion. Denn dass Grundrechte und gerichtliche Entscheidungen von der Polizei in dieser Art mit Füßen getreten werden, geht schlichtweg nicht. Das öffnet der staatlichen Willkür Tür und Tor. Außerdem sollte diese Polizeitaktik bereits im Vorfeld des Gipfels ganz sicher dazu führen, dass möglichst viele Menschen abgeschreckt und zu Hause bleiben würden. Ein Unding in einer Demokratie.

Am Donnerstag verlor die Polizei gleich bei der ersten angemeldete Großdemonstration „Welcome to hell“ komplett den Maßstab dafür, was rechtsstaatlich ist und was nicht. Übereinstimmend berichten Journalisten, Beobachter und Teilnehmer, dass die Aggression und Gewalt eindeutig von der Polizei ausging. Das auch unter Juristen umstrittene Vermummungsverbot rechtfertigt nicht, ohne Ankündigung wahllos auf Menschen einzuschlagen und mit aller Härte auch Wasserwerfer gegen Tausende Unbeteiligter einzusetzen. Dies ist aber geschehen, auch wenn jetzt im Nachhinein Politiker meinen, aufgrund der Randale die Polizei in Schutz nehmen zu müssen und die Polizisten über den grünen Klee loben.

Natürlich ist dieser Einsatz am Donnerstag nur die Fortsetzung der rigorosen Hamburger Linie. Doch dieser Polizeieinsatz stellte diese Strategie ganz massiv in Frage und bedurfte eigentlich harter Konsequenzen. Denn es ist eben nicht gleichgültig, wer der Aggressor gewesen ist und von wem Gewalt ausging. Doch auf Konsequenzen dürfen wir wahrscheinlich ewig hoffen. Meine Wut auf die Polizei wuchs stetig. Ein Tweet brachte es auf den Punkt: »Wenn ich friedlich in einer angemeldeten Veranstaltung demonstriere und die Polizei mich schlägt, dann ist das Polizeigewalt.« Dem ist nichts hinzuzufügen.

Natürlich rechtfertigt diese Vorgeschichte nichts, aber sie erklärt und sie zeigt, in welche Stimmung die Polizei die Gegner des Gipfels gebracht hat. Ich war und bin noch immer wütend auf die Polizei wie lange nicht mehr – und diese Wut ist berechtigt und kann bei der Einordnung der Ereignisse nicht einfach ignoriert werden. Der Einsatzleitung war von vornherein klar, was das knallharte, teilweise jenseits der Legalität liegende Vorgehen der Polizei bei vielen Demonstranten bewirkte – nämlich starke Solidarität mit sämtlichen Gruppen und Aktionen des G20-Widerstands.

Als am Freitag dann zahlreiche friedliche Aktionen erneut gewaltsam mit Schlagstock, Pfefferspray und Wasserwerfern aufgelöst wurden, gab es weitere verletzte Aktivisten. Selbst komplett harmlose Kunstprojekte wurden mit Polizeiaufgeboten begleitet, die vollkommen übertrieben schienen. Zur gleichen Zeit brannten die ersten Straßenblockaden und Autos, ohne dass die Polizei viel dagegen ausrichtete. Als Beobachteter kann man sich nur wundern, warum die Polizei klagt, zu wenig Kräfte gehabt zu haben, wenn man gleichzeitig sieht, wo und in welcher Massivität die Polizeikräfte eingesetzt wurden. Auch das war der Einsatzleitung klar.

Natürlich kam es dann auch zu den Bildern, die jeder erwartet hatte. Marodierende Vermummte zerstörten Autos, Schaufenster, Automaten und vieles mehr. Niemand kann sagen, dass dies überraschend gekommen sei, denn jedem Laien war klar, dass es solche Situationen geben würde. Was jedoch verwundert ist, dass die Polizei mit ihrem riesigen Aufgebot nicht in der Lage gewesen sein soll, diese vielleicht maximal 1.000 Menschen zu verfolgen. Zeitweise schwebten bis zu sechs Hubschrauber in der Luft, die mit ihren Präzisionskameras ziemlich genau gesehen haben, was in der Stadt passierte. Doch diese Informationen kamen offenbar nicht oder so spät am Boden an, so dass die Randalierer freie Bahn hatten.

Es ist naiv zu glauben, dass die Polizei nicht wusste, was wo geplant war und passierte. Wie die rechte Szene ist natürlich auch die linke Szene durchsetzt mit V-Leuten. Und es sollte auch nicht verwundern, dass auch hier der Staat selbst über seine V-Leute an den Gewaltaktionen zumindest mit beteiligt gewesen ist. Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass sämtliche Aktivisten massiv nicht nur aus der Luft überwacht wurden. So behauptet die Polizei, dass die gewaltbereiten Demonstranten, die Hooligans und Chaoten genau aus den von der Polizei mehrfach verhinderten und schließlich gerichtlich genehmigten Camps gekommen seien. Diese Behauptung erstaunt, denn wenn man wusste, wo diese schliefen, hätte man sie dort festnehmen oder zumindest von dort aus verfolgen können. Beides ist nicht passiert, sondern man hat sie durch die Stadt marodieren lassen.

Die „Hamburger Linie“ der Nulltoleranz hat komplett versagt. Es war eine einzige, große Provokation: Angefangen davon, den G20-Gipfel direkt neben dem Schanzenviertel mitten in einer Großstadt durchzuführen über die über Tage verhängte Verbotszone, die so groß gewesen ist, wie sie Deutschland noch nie gesehen hat und in der Grundrechte keine Anwendung mehr finden. Das Verbot von Übernachtungscamps, der unwürdige Streit um Toiletten und Küchenzelte, die Verbote von Demo-Routen und Kundgebungsorten, harte Polizeieinsätze mitten in friedliche Demonstrationen hinein, die Einkesselung zahlreicher friedlicher Demonstrationen und der Einsatz »unmittelbaren Zwangs« mit Schlagstock, Pfefferspray und Wasserwerfern – ja, die Polizei war vielleicht überfordert, aber wahrscheinlich nur, weil sie nichts einfach so geschehen ließ. Anstatt sich auf die wirklichen Extremen zu konzentrieren, wurden friedliche Sitzblockaden und Kunstaktionen mit Hundertschaften von Polizei begleitet, so als würde von diesen Gefahr für Leib und Leben ausgehen – derweil Autos angezündet und Läden geplündert wurden.

»Wir waren überrascht über das Aggressions- und Gewaltpotenzial« hört man von Polizei und Einsatzplanung. Dies ist mit Sicherheit nicht die Wahrheit. Seit Genua waren die meisten Gipfel begleitet von massiver Randale. Mit was hat die Hamburger Polizei gerechnet? Das Wattebäuschchen geschmissen werden. Immer haben Autos gebrannt und Mülltonnen, immer flogen Steine und gingen Schaufenster zu Bruch. Ein Fehler war jedoch, der Bevölkerung, die es besser wusste, vorzuspielen, dass es das in Hamburg nicht geben würde.

»Es war zu wenig Polizei!« ist eine zweite Begründung für die Vorfälle. Es war aber wohl eher die falsche Prioritätensetzung. Wenn jede Veranstaltung, selbst reine Kunstveranstaltungen mit einem Riesenaufgebot an Polizei begleitet wird, bleibt natürlich nichts, um gegen Plünderungen und Randalierer vorzugehen. Ebenso ist fragwürdig, ob die massive Sicherung der Staatschefs durch SEK und MEK in dieser Form notwendig gewesen ist. 20.000 Polizisten, 48 Wasserwerfer, etliche Räumfahrzeuge sollen nicht ausgereicht haben, die Randale, die sich auf einem räumlich relativ kleinen Gebiet abgespielt hat, zu verhindern oder wirkungsvoll einzudämmen? Ich bin äußerst skeptisch, ob es der Polizei tatsächlich überhaupt nicht möglich gewesen ist oder ob diese Bilder nicht zumindest auch bewusst in Kauf genommen wurden. Die aggressive Linie der Polizei lässt jedenfalls kaum einen anderen Schluss zu.

Und genau hier stellt sich wie immer die Frage des cui bono. Wem nützen derartige Bilder?

Folgende Aspekte sind denkbar:

  1. Das Thema innere Sicherheit wird durch die Ausschreitungen in Hamburg im anstehenden Bundestagswahlkampf enorm an Bedeutung gewinnen. Das spielt natürlich der Kanzlerin und den rechten und rechtesten Parteien in die Hände. Und es ist davon auszugehen, dass das Beispiel Hamburg häufiger für die absurdesten Forderungen und Diskussionen herhalten muss.Beispielsweise ist nicht ausgeschlossen, dass die Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr im Innern wieder auf die Agenda kommen wird – diesmal wohl gemerkt nicht für den Einsatz gegen Terroristen, sondern für den Einsatz gegen demonstrierende Bürger. Eine Horrorvorstellung für jeden Bürger, dem seine Grundrechte etwas Wert Oder es wird mit Hamburg die Notwendigkeit der personellen Verstärkung der Polizei und Geheimdienste gefordert oder weiterer grundrechtlicher Beschränkungen und Freiheitsrechte.
  2. Die politisch linken und nach links tendierenden Gruppierungen und Parteien geraten in schwieriges Fahrwasser, da die ungerechtfertigte massive Polizeigewalt die Solidarität unter den Gegnern und Aktivisten stärkte. Eine klare Abgrenzung zu den gewalttätigen Ausschreitungen wird zunehmend schwierig, da eine klare Grenze zwischen links-autonomen Aktionen und Aktionen gezogen werden muss, die jenseits davon liegen. Eine differenzierende Sicht auf die Vorkommnisse macht diese Gruppen und Parteien aber angreifbar und wahrscheinlich auch in manchen Bevölkerungskreisen unglaubwürdig. Welche Auswirkungen dies auf die Bundestagswahl und den Wahlkampf haben wird, bleibt abzuwarten.
  3. Die Politik kann hervorragend davon ablenken, dass die Polizeistrategie der sogenannten »Hamburger Linie« komplett versagt hat. Die massive Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten tritt vollkommen hinter die alles dominierenden Berichterstattung über brennende Barrikaden, Steine werfende Chaoten, in Wohngebieten marodierende vermummte Hooligans und erschöpfte Polizisten zurück, die sich in ihrer Montur angeblich nicht trauen, einen Straßenzug von hundert Metern zu betreten, weil sie einen Hinterhalt wittern. Diese gewollte Undifferenziertheit macht keinen Unterschied mehr zwischen Tätern und Opfern sowohl auf Seiten der Polizei als auch auf Seiten der G20-Gegner. Was hängen bleibt und was hängen bleiben soll, ist der undifferenzierte Blick auf die Polizei als Opfer der übermächtigen »linken« Gewalt, die von den G20-Gegnern ausging. So einfach kann man sich die Welt machen.

Insgesamt muss sich die Organisation des G20-Gipfels vorwerfen lassen, die Welt für viele noch ein wenig weiter aus den Angeln gehoben zu haben. Wut, Angst und Verunsicherung nehmen durch die Bilder aus Hamburg in der Bevölkerung zu und werden die Bundestagswahl in wenigen Wochen stark beeinflussen. Und nicht nur diese. Elke Steven vom Grundrechtekomitee bringt in einem taz-Kommentar den außerordentlich übertriebenen Polizeieinsatz in Hamburg auf den Punkt: »Der Gipfel mitten in einer Großstadt selbst ist die Gefahr, die diese Bundesregierung den BürgerInnen zumutet. Mit dieser »Gemengelage« rechtfertigen Innenminister, Sicherheitsbehörden und Polizei den Ausnahmezustand, der die Aushebelung der demokratischen Grundordnung auf Zeit beinhaltet. Die Polizeimaßnahmen dienen letztendlich der ­Erprobung polizeilich-militärischer Auf­standsbekämpfung.« (taz vom 08.06.2017)

 

 

Weitere empfehlenswerte Kommentare:

Interview mit Thomas Hummel: Die Strategie der Polizei ist kolossal gescheitert

Martin Kaul: Der Aufstand

Heribert Prantl: Grundrechte sind kein abstrakter Kokolores

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4 Antworten zu Und wieder die Frage nach dem cui bono

  1. Marla schreibt:

    Es ist ein ‚geniales‘ ‚Festival der Undemokraten‘, der law and order Mappusse!
    „Null Toleranz“ ist doch ne Orwellsche Lachnummer:
    machthaberisch hat es immer bedeutet: vorab kriminalisieren, vorab Gesetze brechen, den Demonstranten mit brutalsmöglicher Intoleranz begegnen!
    Ich behaupte Strategin und PR bewanderte Merkel wusste 2015, dass 2017 Wahlen sind und sie unbedingt die ‚Gerechtigkeitsfanatiker‘ in ihre Schranken weisen muß: wie geht das besser als auf SPD Boden mit dem Schanzenviertel, als möglicher Garant für Unruhe! Und wenn die nicht willig sind, dann helfen provocateure, kennen wir doch.
    Wette Scholz war so stolz auf sein Fürstentum, dass er nicht an Wahl gedacht hat? Was für mein Hamburg gut ist ist auch für die SPD gut? Hat nicht auch BW grünspd ‚vergessen‘ einige Kandidaten a la Häussler auszutauschen? So auch der Schill Zögling Dudde! Als hardliner bekannt! Schill/CDU nahe…. Da hat der doch eher Befehle von Ihro Merkel angenommen als vom Philharmonischen Scholz!
    Weiterhin bin ich davon überzeugt, dass hier ‚Bundeswehr im Inneren‘ vorbereitet wurde!
    Die Angst der Minderheit vor der Mehrheit ist enorm also müssen alle ‚rechtsstaatl. Mittel‘ genutzt werden!
    https://www.heise.de/tp/features/Haeuserkampf-zum-G20-Spezialeinheiten-haetten-schiessen-duerfen-3770940.html?view=zoom;zoom=1
    http://www.mopo.de/hamburg/g20/medienbericht-kriegschiff-soll-zu-g20-im-hamburger-hafen-liegen—fuer-notfaelle-27848922
    http://augengeradeaus.net/2017/07/g20-gipfel-in-hamburg-zum-falschen-zeitpunkt-mit-dem-transportpanzer-unterwegs/
    Panzer, die während der aufgepeitschten Stimmung ’nur‘ nen besseren Schlafplatz, ups Parkplatz suchten!
    https://www.shz.de/regionales/hamburg/g20-gipfel/neuland-so-sieht-es-im-g20-knast-aus-id17104451.html Für 3 000 000 ein Gefängnis bauen… Ist doch nicht ohne!
    Journalisten und Anwälte drangsalieren ( da wurde geübt inwieweit diese zusammenhalten =null!)
    Und es war ja erfolgreich: die Kommentare überschlagen sich ja vor Wut gegen Linksextremisten!
    http://www.spiegel.de/netzwelt/web/g20-gipfel-in-hamburg-sascha-lobo-ueber-den-umgang-mit-extremisten-im-netz-a-1157337.html
    „Differenzierung ist wichtig
    Aber Rechtsstaat ist Differenzierung. Und Differenzierung ist meist gerade dann wichtig, wenn sie schwer fällt. Das Ziel aller Extremisten ist, existenzielle Situationen zu provozieren, weil dann die Entscheidung nur noch Ja oder Nein lauten kann, schwarz oder weiß, Freund oder Feind.“
    Dieses Freund/Feind braucht aber der Unrechtsstaat!
    (Kennen wir das nicht von Stuttgart? Wo ja MerkelMappusMetzSchuster massiv die ‚wer nicht für mich ist ist gegen mich‘ proklamiert haben)
    Nulltoleranz bedeutet Aufrüstung der Machtmonopole hier und Abrüstung der Demokratie dort!

  2. Marla schreibt:

    Fehleranalyse…
    schon Mausfeld hat darauf verwiesen, dass man den Feind eroieren muss gegen den man kämpft!
    Auch im rubikon stehen dringend wichtige Fragen, die ja massiv auch mit Erfahrungen zum Stuttgarter Widerstand bereichert werden könnten!
    https://www.rubikon.news/artikel/g20-gipfel-in-hamburg-und-der-politische-kassensturz
    „Nicht erst der G20-Gipfel in Hamburg böte also die Gelegenheit, endlich einmal kontrovers, zusammen und getrennt, Fragen nachzugehen, die jedes „Lager“ beantworten müßte.()
    Die erste und sicherlich ziemlich wichtige Frage ist doch: Treffen sich auf diesen politischen Gipfeln (von G7- G20 plus X) die Verantwortlichen dieser Weltordnung? Sind sie die erste Adresse des Protest?
    Jean Ziegler ist alles andere als ein Militanter. ()
    Er hat nicht nur exzellente Kenntnisse über die verheerenden Auswirkungen dieser Weltordnung, er hat auch ausgezeichnete Binnenkenntnisse, also über das Zusammenspiel von politischen und wirtschaftlichen Machtfaktoren.
    Dazu sagt er:
    „Die Staatschefs G20-Gipfel sind lediglich Wasserträger, Gehilfen und Ausführer der Interessen der Konzerne. Die Präsidenten sind Komplizen der Privatunternehmen …“ (ver.di Publik 4/2017)
    Warum spielt also diese Analyse (mit der er sicherlich nicht alleine ist) in den Vorbereitungen, in der Ausrichtung, in der Durchführung der Proteste keine Rolle?
    Die zweite Frage bezieht sich auf die Perspektive des Protestes. Das militante Lager glaubt nicht an die Veränderbarkeit der Verhältnisse durch Wahlen. Im Gegenteil: die Beteiligung an Wahlen binde vielmehr sehr viele Energien und noch mehr Illusionen.
    Wenn Wahlen also kein geeignetes Mittel sind, politische Meinungen abzubilden bzw. Verhältnisse zu ändern, dann müßte man sich schlicht der Frage stellen. Was dann? Wie legitimiert sich militanter Widerstand? Welche anderen Formen der politischen (Selbst-)Beteiligung begrüßt man, wenn Parteien und Wahlen dafür nicht taugen? Diese Frage ist nicht neu und deren Antworten sind heute dünner denn je.
    An das „friedliche“ Spektrum richtet sich die Frage: Ist eine „bessere“ Partei tatsächlich ihre politische Perspektive? Glaubt man, über eine starke „linke“ Partei (zur Zeit ist das nur die Partei „DIE LINKE“) im Parlament die politischen Verhältnisse verändern zu können? Oder verändern die parlamentarischen Verhältnisse – früher oder später – (auch) die „linke“ Partei – spätestens dann, wenn sie den Preis für eine Regierungsbeteiligung zahlt.
    Spielt dabei das Wissen um den Weg der „Grünen“ keine Rolle, bei der Beurteilung dieser Option?
    Aber auch dann, wenn die „LINKE“ nicht den Weg von einer pazifistischen zu einer Kriegspartei geht, stellt sich doch die realistische Frage: Glaubt die LINKE bei ihrem Werben um eine Regierungsbeteiligung (in einer rot-rot-grünen Koalition) im Ernst, dass dies in Deutschland ohne eine Kriegsbeteiligung geht?
    Deutschland ist nicht Irland oder Finnland. Aber nehmen wir einmal – völlig unrealistisch – griechische Verhältnisse an. Gibt es wirklich keine Lehre aus dem, was sich in Griechenland zwischen 2015 und 2016 abgespielt hat?
    Fast nirgendwo in Europa war der Protest, der Widerstand gegen diese kannibalische Weltordnung so mächtig und vielstimmig wie in Griechenland. Es fanden zahlreiche Generalstreiks statt, die Oligarchie wurden bei den Wahlen 2015 abgewählt, ein neues Parteienbündnis „Syriza“ betrat mutig und aufrecht die politische Bühne, und bildete schließlich die neue Regierung. Auch ein Referendum über die Annahme bzw. Ablehnung des Troika-Diktats bekam über 60 Prozent der Stimmen. Aber …. die Wahlergebnisse spielten keine Rolle, bei dem was anschließend passierte. Die Antwort auf die Wahlen war auf Seiten der Troika die Macht des Kapitalismus, ein finanzpolitisches Waterboarding, bis die gewählte Regierung, im wahrsten Sinne des Wortes, keine Luft mehr bekam und kapitulierte. Was in diesem Land geht bzw. gar nicht geht, wurde nicht an den Wahlurnen entschieden.
    Diese Erfahrungen sind bitter und niederschmetternd. Aber noch schlimmer ist es, darüber hinwegzugehen, anstatt offen und gemeinsam darüber zu diskutieren, welche Schlüsse man daraus gezogen hat?
    Vielleicht genügen diese Fragen, um zu zeigen, wie sehr sie alle Formen des Protestes und des Widerstands berühren, denn bei diesen Grundfragen stehen alle auf wackligen Brettern. Sich das einzugestehen und das anzugehen, wäre radikal – ohne einen einzigen Stein zu werfen.“
    Auch in Stuttgart wurden alle brutalst möglichen Reflektionen vermieden!
    Wie ich den Satz: einfach weiter machen, immer weiter machen“ hassen gelernt habe!
    Die obigen Fragen sind dringend, denn gewalt/nicht gewalt spaltet die eh schon maue Solidarität des Fußvolks!

  3. Marla schreibt:

    …. Habe gerade auch auf dem Fest der Kulturen die bock auf wahl kampagne getroffen….
    Und konnte mir den lästernden Satz nicht verkneifen: 2013 hat noch Blöd ‚geht wählen‘ Kampagnen gemacht…. Ergebnis 10% mehr Wahlbeteiligung….hat sich was verändert? (Sie erhoffen sich auch 10% mehr Beteiligung 😉
    Zu oben: ich glaube nicht mehr an Wahlen…. Ich weiß, dass Wahlen nichts verändern! Mit Schröder/Fischer hab ich die Erfahrung gemacht: schlimmer geht immer!

  4. Marla schreibt:

    Der rubikon teilt in 3 Artikel
    1: https://www.rubikon.news/artikel/liebe-vollidioten
    „Von BILD bis zum SPD-Innensenator Andy Grote wird man dazu eines und vereint hören: Wir respektieren bis zum Abwinken das Demonstrationsrecht. Aber wo sinn- und gehörlos demonstriert werden darf, bestimmen immer noch jene, denen der Protest gilt. Wir sind Demokratie und wir machen Demokratie – und zwar so, wie sie uns gefällt.
    Dass die Einrichtung zugeteilter Demonstrationszonen die TeilnehmerInnen zur aktiven Selbstdemütigung, zu Statisten ihres eigenen Anliegen macht, gefällt den Demokratiehütern.
    Und ganz egal ist ihnen, wenn die faktische Suspendierung des Demonstrationsrechts bereits mehrmals von Gerichten für rechtswidrig erklärt wurde. Genau das ist passiert, als die in Heiligendamm 2007 und rund um den Tagungsort Schloss Elmau 2015 verhängten Verbotszonen als Rechtsbruch erkannt wurden.
    Aber was juckt die Schützer des Rechtstaates das Recht, wenn es sich einmal an ihrem Bein verbeißt? Gar nicht, denn diese Urteile kamen allesamt, als der Rechtsbruch längst seine Dienst geleistet hatte, also alles vorbei war. Man muss also nicht weiter ausholen, um fairerweise festzuhalten:
    Der organisierte Rechtsbruch ist weder quantitativ noch qualitativ eine Domäne des Protestes.“

    2: https://www.rubikon.news/artikel/welcome-to-festival-der-demokratie-in-hamburg-anlasslich-des-g20-gipfels
    „Gibt es tatsächlich einen wirklichen Nachhall auf dieses Event? Hat es mobilisierende Wirkung für die politischen Alltage? Ist ein solcher „Gipfelsturm“ konzentrierter Ausdruck der vielen politischen Alltage oder Ersatz?
    Oder haben diese besonderen Erfahrungen einen eigenen Wert, wenn sie einmal nicht aus Ohnmacht und Vereinzelung bestehen?
    Diese Fragen umtrieben mich seit den 80er Jahren und ich habe es sehr selten erlebt, dass man sich nach solchen aufreibenden und kraftraubenden Ereignissen auch die Zeit genommen hat, diese Fragen zuzulassen … und nach Antworten zu suchen, die ggf. auch in eine veränderte Praxis münden, wenn das nächste Großereignis ansteht.“

    Alle drei Artikel stellen wichtige Fragen und wichtige Forderungen!

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