Occupy Schlossgarten (Sommer 2011)

Dieser Artikel ist schon ziemlich alt. Ich habe ihn wahrscheinlich im Sommer 2011 geschrieben.

Was haben der Protest gegen Stuttgart21 und Occupy Wall Street gemeinsam? Sie speisen sich aus derselben Quelle und zielen in dieselbe Richtung – in New York als Fundamentalkritik, in Stuttgart als Kritik an ganz konkreten Vorgängen. Die Empörung über diese Vorgänge erhält ständig neue Nahrung – ihre breite Artikulation wird in Deutschland aber erst in einigen Jahren aus Amerika ankommen. Der Stuttgarter Protest ist Vorreiter und erstes Vorspiel.

Seit über einem Jahr ist der Stuttgarter Schlossgarten von der Bürgerbewegung gegen Stuttgart21 besetzt, an der Wall Street wächst aktuell ein Zeltdorf. Im Schlepptau dieser Besetzung kamen in Stuttgart weitere Gruppierungen hinzu und schlugen im Schlossgarten ihre Zelte auf: Obdachlose, Punks, Roma und andere. Politik und Polizei sind seit dem 30.09.2010 mit provozierenden Polizeieinsätzen im Schlossgarten sehr vorsichtig geworden, so dass sich im mittleren Schlossgarten gesellschaftliche Randgruppen vor polizeilicher Verfolgung einigermaßen sicher fühlen können. Inzwischen ist der Grund der Besetzung immer weiter aus dem Fokus geraten. Von der Presse wird nahezu ausnahmslos über den „rechtsfreien“ Raum gesprochen, über den „Dreck“ der dort hersche, über den „Schandfleck“. Übersehen wird dabei, dass die Bewohner dieses rechtsfreien Raumes es gut schaffen, für soziale als auch für physische Ordnung zu sorgen, denn immerhin wird dieser Teil des Schlossgartens nicht mehr von öffentlicher Hand gepflegt, der Rasen wird nicht mehr von städtischen Gärtnern gemäht, die Mülleimer werden nicht mehr von der städtischen Müllabfuhr geleert – das wird inzwischen alles von den Bewohnern selbst organisiert. Freitags Nachts in der Innenstadt sieht es um längen verlotterter aus als im Zeltdorf im Stuttgarter Schlossgarten. Die Selbstorganisation der Bewohner scheint ordentlich zu funktionieren.

Die Presse ignoriert bisher, dass im Stuttgarter Schlossgarten nichts anderes passiert ist, als heute an der Wall Street in New York und in vielen anderen Städten passiert: Menschen setzen mit Ihrer körperlichen Anwesenheit ein Zeichen gegen die „Arroganz der Macht“, gegen die „Vorherrschaft des Kapitals“. Sie machen auf Missstände aufmerksam und sind gewillt, nicht eher zu gehen, bis nicht eine befriedigende Reaktion der Verantwortlichen, an die sich dieser Protest richtet, sichtbar wird. Während die Bewegung „Occupy Wall Street“ eine grundsätzliche Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen artikuliert, geht es in Stuttgart um ein ganz konkretes Beispiel dieser gesellschaftlichen Missstände, der „Arroganz der Macht“ und der „Vorherrschaft des Kapitals“. Die Kraft und Ausdauer dieser Bewegungen speist sich aber aus demselben Kern – nicht etwa aus dem Kern der Wut, wie weithin und immer wieder mit stark negativer Konnotation behauptet wird, sondern aus dem Kern der Empörung! Wir sind keine von der Presse erfundenen „Wutbürger“, sondern reale Staatsbürger, die sich über reale Missstände in der Gesellschaft empören und auf Änderung dringen!

Die Empörung in Stuttgart richtet sich auf die dreiste Lüge, Stuttgart21 sei ein sinnvolles Bahn- und kein rein wirtschaftliches Immobilienprojekt; auf die dreiste Lüge, das Projekt sei mit 4,1 Mrd. Euro zu realisieren, obwohl längst klar ist, dass schon jetzt absehbare Mehrkosten in Milliardenhöhe vom Steuerzahler, nicht vom Bauherrn getragen werden müssen; auf die dreiste Lüge, Stuttgart21 sei zum Wohle Stuttgarts, obwohl längst klar ist, dass Stuttgart nur verliert indem statt des jetzigen „Riegels“ des Gleisgebirges ein neuer 10 Meter hoher Riegel quer zum Tal direkt in der Innenstadt geschaffen wird; auf die dreiste Lüge, Stuttgart21 sei über Parlamentsbeschlüsse ausreichend demokratisch legitimiert, obwohl längst klar ist, dass die Parlamente auf Basis falscher Kalkulationen entschieden haben. Diese dreisten Lügen werden von der Politik und der Bahn gebetsmühlenartig wiederholt in der routinierten und blinden Gewissheit, die Bürger würden schon nichts merken.

Der jetzige Baustopp ist deshalb für die Bürgerbewegung gegen Stuttgart21 ein wichtiges Zeichen, weil zum ersten Mal die Bahn nicht freiwillig die Bauarbeiten einstellen muss, sondern dieser Baustopp gerichtlich verfügt wurde. Erstmals erhalten wir von offizieller Stelle machtvolle Unterstützung in diesem Protest. Die Erfahrung lässt jedoch ahnen, dass sich das Eisenbahnbundesamt mit hoher Wahrscheinlichkeit über den Beschluss des höchsten Baden-Württembergischen Verwaltungsgerichts hinwegsetzen und einen Sofortvollzug geltend machen wird, so dass die Bahn weiterbauen kann. Das Eba wird genau durch diesen Verwaltungsakt, der die Arroganz und Ignoranz einmal mehr auf den Punkt bringt, den Protest und die Empörung weiter anfachen, denn genau aus derartigen Vorgängen speist sich der Kern dieses Protests – und des Occupy-Wall-Street-Protests weltweit.

In Deutschland sind wir noch nicht so weit, wie in Amerika. Wir hinken auch hier einige Jahre hinterher. Die Empörung über den verfassungswidrigen EnBW-Deal von Stefan Mappus verhallt folgenlos. Der Versuch der Atomlobby, die Kosten für den Rückbau der Atomkraftwerke zu sozialisieren und die Rückstellungen hierfür zu privatisieren, löst zwar viel Entrüstung aus, die Politik hat aber noch nicht entschieden – und wer die Macht der Atomlobby kennt, kann sich bereits heute ausmalen, dass dieser unanständige Vorschlag in Berlin ernsthaft geprüft werden wird. Der sogenannte Bundestrojaner wurde von der Polizei programmiert und kann weit mehr, als von der Verfassung ausdrücklich zugelassen. Natürlich wird abgestritten, dass dieses Ausspähprogramm jemals vom BKA eingesetzt wurde (die LKA halten sich hier übrigens bedeckt!). Unglaubwürdig ist jedoch, dass Programme entwickelt werden, um sie dann doch nicht einzusetzen. Noch scheint hierzulande die Empörung über derartige Vorgänge nicht groß genug zu sein, noch geht es uns vielleicht zu gut, um auf breiter Basis fundamentale Gesellschaftskritik zu üben. Sie wird aber kommen, diese Bewegung, sie wird wie immer mit einem Verzug von einigen Jahren über den Atlantik schwappen – der Protest in Stuttgart ist hier Vorreiter, ein erstes Anzeichen, wie hartnäckig und ernsthaft der Protest ausfallen wird. Man kann nur hoffen, dass sich die Politik bereits heute überzeugende Antworten überlegt. Billig abspeisen lässt sich dieser Protest nicht mehr!

Oben bleiben!