Wieso kein Frieden in Stuttgart einziehen kann (Sommer 2011)

Im Zusammenhang mit dem Großprojekt Stuttgart21 ist durch ein Höchstmaß an Ignoranz so ziemlich alles falsch gemacht worden, was man falsch machen kann. Die Legitimierungsversuche, die es seit dem 30.09.2010 gibt, wollen alle nicht fruchten. Dies liegt daran, dass es die Projektverantwortlichen mit einem gut informierten, engagierten und friedlichen Bürgerprotest zu tun haben, auf den sie bis heute nicht angemessen reagieren.

Und wieder wird eine Sau durchs Dorf Stuttgart getrieben: Nun also eine Volksabstimmung bzw. ein Volksentscheid. Nach „Schlichtung“ und „Stresstest“ ein neuer Versuch, von den Problemen des Projekts Stuttgart21 abzulenken und das von Beginn an vermurkste Projekt irgendwie zu legitimieren, damit die Gegner sich mit dem Bau des Tunnelbahnhofs wenn nicht anfreunden so doch endlich abfinden. „Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei“, sagten die Projektbeteiligten vor einem Jahr, und „man muss den Menschen zuhören und sie ernst nehmen.“ Sie verharren bis heute in ihrer Basta-Mentalität und verpassen es dadurch, Stuttgart wirklich zu befrieden.

Die Projektpartner Bahn, Bund, Land und Stadt übersehen zwei wichtige Aspekte, die für eine Abkehr von der Basta-Politik und damit für eine Befriedung Stuttgarts ganz entscheidend sind:

  • Bei den Gegnern von Stuttgart21 handelt es sich auch nach über einem Jahr des Protests um einen Querschnitt der Stuttgarter Bürgerschaft, Bürger von der Halbhöhenlage genauso wie Bürger ohne Obdach, Professoren genauso wie ungelernte Arbeiter, Hausfrauen genauso wie Studenten. Diese Bürger sind fachlich gut informiert und kennen ihre staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten – und sie bestehen auf ihrem Recht, als mündige Bürge ernst genommen werden.
  • Es reicht heutzutage bei der Durchsetzung von Großprojekten nicht mehr, nur politisch oder nur fachlich oder nur rechtlich zu überzeugen. Eine Legitimierung muss umfassend auf allen drei Ebenen glaubhaft sein, um von mündigen, kritischen Bürgern anerkannt zu werden.

Beides führt zu der seit langem unüberhörbaren Forderung der Gegner, dass die Vernunft endlich obsiegen möge. Die Gegner des Projekts verlangen nach einem von Anfang bis Ende ordentlichen, einer Demokratie und einem Rechtsstaat angemessenen Legitimationsverfahren. Sie verlangen nach einem nach vernünftigen Kriterien entworfenen und verlässlich kalkulierten Projektplan. Und sie verlangen, dass Verträge und Vereinbarungen rechtlich einwandfrei und transparent geschlossen werden und es keine geheimen Hinterzimmer-Absprachen und Mauscheleien gibt. Doch was sie bisher geliefert bekommen, ist primitives Stückwerk, ist der hilflose Versuch, die vielen Lücken und Löcher in der demokratischen Legitimität, in der fachlichen und wirtschaftlichen Planung und in den rechtlichen Rahmenbedingungen des Projekts im Nachhinein zu stopfen und zu füllen.

Dieses naive, von der Hoffnung auf die Beruhigung des Widerstands motivierte Vorgehen der Projektpartner Bahn, Bund, Land und Stadt kann auch mit einer Volksabstimmung keinen Erfolg haben. Die von ihnen bis heute angewandten Mittel und Werkzeuge sind ungeeignet, da sie nicht ehrlich sind und nicht auf die Bedürfnisse und Forderungen einer kritischen Bürgerschaft nach Transparenz, Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit eingehen. Darüber hinaus berühren die ergriffenen Maßnahmen immer nur isoliert eine der drei Ebenen, während die jeweils anderen unberücksichtigt bleiben. Dem bürgerschaftlichen Engagement wird das Verhalten der Projektpartner nicht gerecht, es gibt keine befriedigenden und befriedenden Antworten auf die fundierten Kritikpunkte, auf die tief sitzende Skepsis und auf die große Empörung und verpasst damit ein ums andere Mal ihr Ziel.

Die politische Legitimierung:

Die Bürger, die sich gegen Stuttgart21 engagieren, verlangen, dass das Projekt ordentlich und einwandfrei demokratisch legitimiert ist. Allein durch die Wahl von Parlamenten ist diese Legitimität nicht herzustellen. Dafür sind die Eingriffe im Zentrum Stuttgarts zu groß, der Kostenrahmen zu umfangreich und der Entscheidungszeitraum von über 15 Jahren schlichtweg zu lang und zu unübersichtlich. Darüber hinaus gibt es ernstzunehmende Hinweise darauf, dass die Zustimmung von Bund und Land zu dem Projekt auf Basis geschönter Zahlen erkauft wurde.

Ein erster Versuch der demokratischen Legitimierung wurde von OB Schuster verhindert – der wohl größte politische Fehler im Zusammenhang mit S21. Schuster hat die OB-Wahlen mit Hilfe der grünen Stammwähler gewonnen, da ihm vom damaligen grünen OB-Kandidaten im Gegenzug zu einer Wahlempfehlung das Versprechen abgerungen wurde, einen Bürgerentscheid zu Stuttgart 21 durchzuführen. Alle Voraussetzungen für diesen Bürgerentscheid waren gegeben, das Bündnis gegen S21 hatte weit über 60.000 Unterschriften gesammelt – doch OB Schuster verhinderte wenige Tage vor der Übergabe der Unterschriftenlisten eine solche Abstimmung, indem er vollkommen überhastet und über ein Jahr früher als alle anderen Projektteilnehmer seine Unterschrift unter Verträge setzte und damit die Stadt Stuttgart rechtlich an den Bau von S21 gebunden hatte. Für die Stadt gab es kein Zurück und auch keinen Bürgerentscheid. Eine daraufhin eiligst aufgelegte Veranstaltungsreihe, die die Bürger an der weiteren Planung einbinden sollte, verkam zu einer Farce, da die teilnehmenden Bürger nicht mehr über das Ob mitreden durften, sondern einzig und allein über das Wie. Das Ob hatte der OB im Alleingang entschieden. Er hat mit seinem undemokratischen Verhalten und seinem ignoranten Alleingang entscheidend dazu beigetragen, dass eine Legitimierung des Projekts bis heute nicht möglich war und sich die Stuttgarter Bürgerschaft tief gespalten hat.

In einem letzte Kraftakt wollen Grüne und SPD nun mit einem Volksentscheid für die Legitimierung dieses Projekts sorgen und den Fehler OB Schusters ausbügeln. Dazu wird ein Ausstiegsgesetz in den Landtag eingebracht, dem aller Voraussicht nach nicht zugestimmt wird. Dadurch kann die Koalition mit ihrer Mehrheit im Landtag verlangen, dass die Bürger selbst über dieses Ausstiegsgesetz abstimmen dürfen. Dieser Volksentscheid ist jedoch schon jetzt ein politischer Eiertanz und wird vor allem aus zwei Gründen zu keiner ausreichenden Legitimierung führen. Der eine Grund liegt darin, dass große Zweifel bestehen, ob die Bahn bei den Parlamentsabstimmungen korrekte Kostenplanungen vorgelegt hat. Wenn nicht, wurden die Parlamente betrogen. Ihre Abstimmung auf Basis gefälschter Zahlen kann nicht akzeptiert werden – gleichgültig ob das Land aus der Finanzierung aussteigt oder nicht. Der zweite Grund liegt darin, dass die Bürger eine Legitimierung durch einen Volksentscheid akzeptieren sollen, der von vielen als ungerecht und unfair angesehen wird.

Der Volksentscheid stellt die Gegner von S21 vor eine im besten Wortsinn tragische Situation: gleichgültig, wie sie sich bei der Abstimmung verhalten, sie können nur verlieren. Eine Teilnahme und damit eine implizite Zustimmung zum demokratischen Instrument des Volksentscheids bringt mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Wahlsieg, da das Quorum eine unrealistische Zustimmungsquote von 33% aller wahlberechtigten Baden-Württemberger fordert. Nach der verlorenen Abstimmung wird konstatiert werden, dass S21 nun endgültig demokratisch legitimiert und weiterer Protest deshalb nicht mehr zu akzeptieren sei. Ein Boykott des Volksentscheides wird hingegen dazu führen, dass man die Gegner bezichtigen wird, undemokratisch zu agieren und nur dann für Abstimmungen zu sein, wenn sie diese auch gewinnen. Auch in diesem Fall werden die Projektpartner die Keule der demokratischen Legitimierung schwingen. Abzuwarten bleibt, wie sich die Parteien verhalten, wenn es eine deutliche Mehrheit gegen S21 gibt, obwohl das Quorum nicht erreicht ist. Niemand wird ernsthaft behaupten können, dass S21 durch diese Abstimmung demokratische legitimiert sein soll!

Zwei weitere, nicht ganz unerhebliche Aspekte schließen sich hier an: es ist einmalig in Deutschland, dass ein ganzes Bundesland über den Umbau eines großen Regionalbahnhofs und die Neuordnung einer ganzen Innenstadt entscheiden darf und nicht nur die betroffenen Bürger selbst. Außerdem gibt es bisher keine verlässliche, transparente Kalkulation zu den Kosten des Projekts selbst noch zu den Ausstiegskosten. Wie sollte man also fundiert über eine finanzielle Beteiligung des Landes abstimmen sollen?

Der zweite große politische Fehler war die Entscheidung von Politik und Polizei, mit aller Härte gegen die Demonstranten vorzugehen. Die Eskalation am 30.09.2010 ist als „schwarzer Donnerstag“ in die Geschichte Stuttgarts eingegangen. Ein Fehler war diese Entscheidung deshalb, weil dem bürgerlichen, absolut friedlichen Protest mit einer Gewalt- und Machtdemonstration begegnet wurde, die absolut inakzeptabel ist. Die Befürworter dieses harten Vorgehens verweisen gerne auf die Jugendlichen, die einen Polizei-LKW bestiegen hätten und auf die Barrikaden aus Bierbänken am Biergarten im Schlossgarten. Beides rechtfertigt in keiner Weise den Einsatz von Wasserwerfern, deren Einsatz nur letztes Mittel sein darf, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, für Ordnung zu sorgen. Der Einsatz zeigte einmal mehr die Hilflosigkeit der Politik, wie mit diesem bürgerlichen Protest umzugehen ist. Macht- und Gewaltmittel, die eigentlich gegen nicht-bürgerliche, autonome oder extreme und gewaltbereite Gruppierungen eingesetzt werden, wurden nun gegen die friedliche Mitte der Bevölkerung, gegen die Bürger Stuttgarts eingesetzt. Die Wunde, die diese Gewalteskalation aufgerissen hat, ist bis heute nicht verheilt, da niemand die Verantwortung für diesen skandalösen Einsatz übernimmt.

Die fachlichen und wirtschaftlichen Planungen:

Einhergehend mit der für viele nicht ausreichenden politischen Legitimierung von Stuttgart21 wurden von den Gegnern des Projekts zahlreiche fachliche Mängel fundiert aufgedeckt. Die Bahn überhörte geflissentlich die Kritik und reagierte arrogant und ablehnend. Die Kritik von Ingenieuren, Architekten, Wissenschaftlern und Bahnkennern wurde durch Informationskampagnen und Vorträge immer mehr allgemeines Wissensgut der Gegner des Projekts, sie wappneten sich mit diesem Wissen und forderten immer lautstarker von der Bahn, auch hier korrekte und ehrliche Antworten zu geben. Diese Forderung mündete schließlich in der Übereinkunft der Projektverantwortlichen und der Gegner, in einem „Schlichtungsverfahren“ die Fakten zu Berechnungen, Risiken und Kosten transparent und offen mit allen Beteiligten zu diskutieren. Es sollte ein Gespräch „auf Augenhöhe“ werden und wurde von Heiner Geißler moderiert.

Zu Anfang sprach Heiner Geißler davon, dass es sich um einen „Faktencheck“ handelte und dass man nicht erwarten könne, dass es nach diesem Faktencheck zu einen Kompromiss zwischen den beiden Parteien kommen würde. Das Ende dieses Prozesses wurde vernünftigerweise offen gehalten. Der Faktencheck brachte zahlreiche fachliche und handwerkliche Mängel und Risiken bei den Planungen der Bahn zu Tage. Doch dann beging Heiner Geißler einen fundamentalen Fehler: er gab seine neutrale Moderatorenposition auf und schwang sich zum Richter bzw. Schlichter über das Projekt Stuttgart21 auf. In seinem „Schlichterspruch“ mahnte Geißler die Bahn zu Nachbesserungen, stellte aber gleichzeitig fest, dass es keinen Grund gäbe, S21 nicht zu bauen – anstatt eben dieses Urteil anderen zu überlassen. Um zu klären, welche der erkannten Mängel tatsächlich behoben werden müssten, wurde vereinbart, einen „Stresstest“ mit einem neutralen Testinstitut durchzuführen. Ein weiterer fataler Fehler von Heiner Geißler war es in der Folge, nicht klar abzusprechen, wie mit den Kosten der notwendigen Nachbesserungen umgegangen werden soll. Er forderte zwar konkrete Nachbesserungen, schob gleichzeitig die Frage ihrer Finanzierung aber von sich weg hin zu den Projektpartnern, die einen fernen Tages darüber verhandeln sollten.

Der dann folgende „Stresstest“ konnte den hohen Anforderungen einer informierten und kritischen Bürgerschaft nicht genügen: Einerseits hat die Bahn die Prämissen mit den Gegnern nicht eindeutig abgestimmt (wer führt den Test durch, wer testiert, welches Ergebnis bedeutet „gute Betriebsqualität“) und andererseits wurde der Prozess des Stresstests selbst nicht klar definiert (wer informiert wen, wer bezieht wen ein, wer hat Hol-, wer Bringschuld etc.). Durch diese diffuse Konstruktion kam es zu der nicht befriedigenden Situation, dass das Testergebnis nicht eindeutig ausgefallen ist und nun von beiden Seiten komplett unterschiedlich ausgelegt wird. Das unabhängige Testinstitut SMA hat tunlichst vermieden, klar und eindeutig zu sagen, dass die geforderte „gute Betriebsqualität“ erreicht sei. Sie bestätigt lediglich eine „wirtschaftlich optimale“ Qualität, so dass eine umfassende Akzeptanz des Testergebnisses durch alle Beteiligten nicht möglich war. Der Status quo ist heute, dass die Bahn sich darauf beruft, den Stresstest bestanden zu haben und die informierten Gegner dem widersprechen. Im Prinzip ist man also fast keinen Schritt weitergekommen.

Die im Ergebnis des Stresstests geforderten Verbesserungen sollen nun von der Bahn umgesetzt werden. Durch die ungeklärte Frage der Kostenübernahme für diese Nachbesserungen lagert die Bahn diese Kosten aus dem Gesamtbudget aus und fordert eine neue zusätzliche Finanzierungsvereinbarungen, wodurch die Kostenobergrenze des Gesamtbudgets von 4,5 Mrd. nicht überschritten würde. Die Gegner sehen das Projekt nach dem Stresstest als endgültig gescheitert an, da die Kosten der Nachbesserungen dazu führen, dass der gesamte Kostenrahmen von 4,5 Mrd. Euro mit hoher Wahrscheinlichkeit überschritten wird.

Die Finanzierung des Projekts stellt ohnehin eine weitere Schwachstelle der Legitimierung dar. Neben den zusätzlichen Kosten für die Nachbesserungen gibt es bisher noch immer ein notwendiges Einsparpotenzial von 900 Mio. Euro nur auf dem Papier. Keines dieser Einsparpotenziale ist bisher von den Aufsichtsbehörden genehmigt oder in Planfeststellungsverfahren bestätigt worden. Ganz im Gegenteil gibt es regelmäßig neue Meldungen über Kostensteigerungen, Schattenhaushalte und Geheimverträge über Projektsfinanzierungen. Das Argument, dass bei Projekten dieser Größenordnung eine so verlässliche Finanzplanung nicht möglich sei, führt in die Leere, da die Projektpartner bisher auf keinem Feld Vertrauen aufgebaut haben. Es ist viel verlangt, dass die Projektgegner trotz der vielen politischen und fachlichen Kritikpunkte ausgerechnet blindes Vertrauen in die Kostenplanung der Bahn haben sollten. Vor dem Hintergrund der Eurokrise bekommt diese Forderung außerdem eine zusätzliche Brisanz.

Insgesamt zeigt sich, dass auch in fachlicher und wirtschaftlicher Hinsicht keine Annäherung der Positionen erreicht wurde. Die Projektbefürworter haben es nicht geschafft, überzeugend darzulegen, dass der geplante Bahnhof die Leistungsfähigkeit besitzt, die für eine gute Betriebsqualität notwendig ist. Gleichzeitig laviert die Bahn mit den Kosten. Im Wochenrhythmus kommen neue Kosten oder geheime Absprachen ans Licht, während die fachlichen Planungen weiterhin fehler- und risikobehaftet sind. Wie können die Projektpartner vor diesem Hintergrund und unabhängig vom Ausgang der Volksabstimmung ernsthaft glauben, dass sich die informierten, kritischen Bürger Stuttgarts mit diesem Stückwerk zufrieden geben und Vertrauen in das Projekt haben?

Die rechtlichen Fragwürdigkeiten:

In rechtlicher Hinsicht reagieren die Projektverantwortlichen auch mit einem Verhalten, das einer informierten, kritischen und aktiven Bürgerschaft absolut nicht angemessen ist. Während die Vorgänge vom 30.09.2010 trotz Untersuchungsausschuss und zahlreicher Klagen von Verletzten nicht befriedigend aufgeklärt wurden, bricht in Stuttgart eine noch nie gesehene Kriminalisierungswelle über die aktiven Gegner des Projekts herein. Die Demonstranten und Projektgegner sind keine klar abgrenzbare Gruppe, die man konzertiert isolieren und mundtot machen könnte; es sind keine radikalen Gruppierungen, die über V-Männer oder den Staatsschutz unterlaufen und von innen heraus aufgelöst werden könnte; es sind keine illegal agierenden Gruppierungen, die durch rechtsstaatliche Verfolgung und harte Strafen eingeschüchtert und in Gefängnisse gesperrt werden könnte. Das bereitet der Polizei Kopfzerbrechen, weil sie die Gegner einfach nicht zu fassen kriegt. Die Baustellenbesetzung vom 20.06.2011, bei der nach einer Montagsdemonstration unter den Augen einiger hundert Polizisten einige hundert Menschen auf das Baustellengelände drangen, wird nun als Vorwand genutzt, um die Gegner massiv durch Hausdurchsuchungen, Ermittlungsverfahren, Identitätsfeststellungen und erkennungsdienstliche Behandlungen einzuschüchtern. Es werden verdeckte Ermittler in Demonstrationen und bei Veranstaltungen eingesetzt und selbst der Staatsschutz ist involviert. Jeder, der auf dem Gelände war, ist verdächtig, verdächtig des schweren Landfriedensbruchs, der Sachbeschädigung oder des Versuchs von Sachbeschädigung.

Die Justiz ist in Stuttgart in einer Weise engagiert, die aufhorchen lässt. Nicht zuletzt durch einen Oberstaatsanwalt, der seine gesamte Energie darauf zu verwenden scheint, Aktivisten zu verfolgen und Höchststrafen zu fordern, sprechen auch die Gerichte Urteile, die wenig Rücksicht auf vergleichbare BVG-Urteile und die gängige Rechtsprechung nehmen. Richter verurteilen friedliche Aktivisten zu hohen Strafen und rechnen offenbar fest damit, dass der Atem der verurteilten Aktivisten in Form von Zeit und Geld nicht ausreicht, um diese Urteile höchstrichterlich prüfen zu lassen.

Die Strategie ist klar: Der friedliche Widerstand soll an seinem wunden Punkt, seiner Friedlichkeit selbst getroffen werden. Wenn den Gegner von Stuttgart21 die Friedlichkeit durch Polizei und Richter abgesprochen wird, wenn friedliche Aktionen des zivilen Ungehorsams mit höchsten Strafen belegt und Gegner öffentlich kriminalisiert werden, hat das eine enorme Wirkung und führt zwangsläufig dazu, dass manch andere Gegner sich zurückziehen oder sehr viel vorsichtiger werden. Diese Strategie ist insofern erfolgversprechend, da sich selbst die engagiertesten Aktivisten irgendwann weitere Verurteilungen finanziell und auch sozial und familiär nicht mehr leisten können. Wären Polizei und Justiz genauso fleißig in Bezug auf Ordnungswidrigkeiten und Vergehen der Projektbeteiligten (die es zu Genüge gibt), fiele es leichter, diese Verfolgung zu akzeptieren. So aber bleibt ein schaler Nachgeschmack, dass die Gerechtigkeit in Stuttgart doch eher ungleich verteilt ist.

Da die Strategie hinter diesem unlauteren Vorgehen von Polizei und Justiz leicht zu durchschauen ist, wird die Empörung über die Vorgänge in Stuttgart nur noch mehr geschürt. Vielleicht schüchtern diese plumpen Verfolgungen und Urteile eine Weile ein. Je deutlicher es aber wird, was hinter diesem Verhalten steckt, desto mutiger werden die Bürger wieder. Denn dies ist ein weiterer Irrtum der Projektbefürworter: mündige, kritische Bürger lassen sich in einem Rechtsstaat nicht so einfach einschüchtern.

Was bleibt also?

Solange Stuttgart21 keine ausreichende politische Legitimität besitzt, solange es ernsthafte Zweifel an den risikobehafteten fachlichen Bauausführungen gibt, solange keine transparente und verlässliche Kostenkalkulation vorgelegt wird und schließlich solange der bürgerliche, friedliche Protest von Polizei und Justiz nicht ernst genommen und respektiert wird, solange werden die Gegner keine Ruhe geben und auf diese Mängel lautstark und bestimmt hinweisen. Eine Befriedung des Konflikts ist deshalb nicht absehbar – das sollte allen Beteiligten klar sein.