3.7.2012 Die „Superwaffe“ des postdemokratischen Staates #s21

Der Artikel „Demokratie kokettiert mit der eigenen Unvollkommenheit“ von Georg Seeßlen und Markus Metz in der aktuellen Ausgabe der einund20 versteckt einige für unsere Bürgerbewegung wichtige, richtige und bemerkenswerte Aussagen. Der Text selbst ist insgesamt eher schwer verständlich, etwas ungelenk und scheinbar unfertig. Und leider verpassen es die Autoren, die für das Verständnis des Textes notwendigen gesellschaftstheoretischen Thesen von Colin Crouch („Postdemokratie“, „Das befremdliche Überlegen des Neoliberalismus“) zu beschreiben, ohne die dieser Text etwas in der Luft hängt. Colin Crouch analysiert, dass wir uns in den westlichen Gesellschaften in einer „Postdemokratie“ befinden. Eine Postdemokratie zeichnet aus, dass durch einen zu schrankenlosen Markt und extrem einflussreiche Lobbys demokratische Verfahren ausgehöhlt werden und Politiker nicht mehr primär danach handeln, was für den Bürger am besten ist, sondern danach, welche Lobby am lautesten brüllt, am meisten verspricht oder gar am meisten zahlt. Der Bürger darf zwar noch alle paar Jahre wählen, aber auch Wahlen und Abstimmungen werden über Wahlspenden massiv von Wirtschaftsinteressen beeinflusst, so dass die Demokratie mehr und mehr den oberflächlichen Regeln des reinen neoliberal geprägten Marketing folgt und zur reinen Makulatur verkommt. (Diese Mechanismen lassen sich wunderbar am Volksentscheid zum Ausstiegsgesetz studieren, aber auch ganz aktuell daran, dass die Bahn wegen selbstverschuldeter zeitlicher Verzögerungen und drohender Mehrkosten das Eisenbahnbundesamt, das Regierungspräsidium und Politiker unter Druck setzt.)

Die Autoren beschreiben, wie sich in einer solchen Gesellschaft der Kampf um Demokratie und Mitbestimmung in Formen des Protests und zivilen Ungehorsams artikulieren kann – und wie der Staat darauf reagiert. „Der postdemokratische Staat tendiert dazu, sein Machtmonopol zu missbrauchen. Nicht trotzdem, sondern gerade deshalb ist die Gewaltfreiheit des zivilen Ungehorsams ein höchstes Gut. (…) Bürgerinnen und Bürger, die schon einmal Opfer von Polizeieinsätzen bei friedlichen Demonstrationen waren, die in die Mühlen der Überwachung gerieten; (…) Bürgerinnen und Bürger, die bemerken mussten, dass Recht auch eine Frage der Anwaltskosten ist, die sich die einen leisten können und die anderen nicht (…) wissen nur zu gut: Der gewaltfreie Widerstand trifft auf einen Gegner, der seinerseits weder Mühen noch Ideen in Gewaltfreiheit investiert, sondern im Gegenteil Strategien der gezielten Gewalteskalation benutzt: Der Verbund von staatlicher Gewalt, bürokratischer Drangsalierung, ökonomischer Austrocknung und medialer Denunziation ist die Superwaffe der Postdemokratie gegen ihre erklärten – und erklärt demokratischen! – Gegner.“

Die Autoren zeigen damit recht genau die Situation auf, in der sich der Protest gegen Stuttgart21 befindet, denn auch der Protest gegen Stuttgart21 – und hier liegt die Verbindung zu anderen Bewegungen wie Occupy – ist eine Bewegung gegen die postdemokratischen Mechanismen in unserer heutigen Gesellschaft! Und sie analysieren sehr treffend die massiven Reaktionen des Staates, mit denen wir tagtäglich in Konfrontation mit der Polizei, vor Gericht oder in den Medien zu kämpfen haben. Es handelt sich um die „Superwaffe“ der Postdemokratie!

Als motivierendes Fazit dieses Textes lässt sich feststellen: „Der historische Augenblick, in dem wir uns wohl derzeit befinden, ist jener, in der ziviler Ungehorsam aufhört, ein moralisches Recht zu sein. Er beginnt, zur Pflicht für jeden denkenden, fühlenden und handelnden Menschen zu werden.“

Konkret: Bei aller berechtigten Kritik am Thema der gestrigen Montagsdemo und der Unflexibilität des Aktionsbündnis hat die Aktion danach im Bahnhof, wo sich viele Gegner spontan auf Gleis 15/16 versammelten, einmal wieder schön gezeigt, wie wirkungsvoll friedlicher ziviler Ungehorsam ist und wie hilflos der Staat darauf reagiert: es bleibt ihm offenbar nur der massive Polizeieinsatz mit gezielten Drohungen einzelnen Aktivisten gegenüber und einschüchternden Maßnahmen. Hätte die Polizei sich im Hintergrund gehalten, die meisten Aktivisten wären nach einer Stunde nach Hause gegangen. Nachdem die Polizei aber unbedingt den Bahnsteig räumen wollte, reagierten viele Demonstranten mit der einfachen, trotzigen Logik des „Jetzt erst recht!“ Die Polizei räumte den Bahnsteig, sorgte dafür, dass sich die Demonstranten schließlich in der Bahnhofshalle befanden, sperrte die Zugänge zu den Bahnsteigen ab, machte insgesamt großen Aufruhr und zog nach zwei Stunden unter großem Applaus der Demonstranten wieder ab. Was an der Situation am Ende besser gewesen sein soll als an der Situation am Anfang, außer dass der Staat einmal wieder seine Superwaffe mit massivem Polizeiaufgebot, gezielten Drohungen und ständiger und vielfacher Videoüberwachung in Stellung brachte, bleibt jedem normal denkenden, demokratischen Menschen verborgen. Und so sorgte vor allem die Polizei gestern im Bahnhof für Störungen und Verärgerungen von unbeteiligten Passanten, die durch unsinnige Polizeiketten weite Umwege in Kauf nehmen mussten. Die Superwaffe ist eben wirkungslos gegen friedlichen Protest und stellt die Hilflosigkeit des Staates ein ums andere mal und für jeden sichtbar bloß.

Die Medien werden darüber wie üblich schweigen – es ist ja auch nicht von Belang, wenn zum 129. Mal Tausende Bürger in Stuttgart auf die Straße gehen. Der SWR hat gestern in seinen Fernsehnachrichten betont, dass er ja schon lange nicht mehr zu S21 berichtet hätte, dass sie aber nun nicht anders könnten … die Anmoderation war absolut entlarvend für die Haltung der Medien: nicht der Nachrichtenwert steht im Mittelpunkt, sondern politische Einflussnahme und postdemokratische Leitlinien! Nur, wenn es gar nicht mehr anders geht, wird über S21 und den Protest berichtet.

Wir kommen wieder! Und wieder! Und wieder!

Oben bleiben!

 

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