Es ist, was nicht sein darf

Es gibt eine ganze Menge an Verfahren, die sich in der deutschen Demokratie eingebürgert haben, die mit naivem Menschenverstand eigentlich nicht als demokratisch bezeichnet werden dürfen (siehe www.vaihinger-manifest.de). Im Gegenteil kann man in einigen dieser Verfahren sogar Ursachen für Entwicklungen erkennen, die unter den Schlagworten Postdemokratie oder Simulationsdemokratie aktuell diskutiert werden.

Ein solches Verfahren, was man im besten Sinne nicht demokratisch, gar undemokratisch bezeichnen muss, konnten wir in den letzten zwei, drei Tagen beobachten. Als Schwuler freue ich mich natürlich darüber, dass die »Ehe für alle« nun endlich auch in Deutschland das Parlament passiert hat. Gleichzeitig bin ich doch einigermaßen überrascht darüber, dass die parlamentarische Praxis des »Fraktionszwangs«, oder besser der »Fraktionsdisziplin« (denn Parlamentarier dürfen zu Entscheidungen natürlich nicht gezwungen werden, allenfalls dürfen sie offensichtlich »diszipliniert« werden) allgemein akzeptiert wird ohne auch nur einen Hauch eines kritischen Worts. Obwohl im Grundgesetz festgeschrieben ist, dass Parlamentarier einzig und allein nur ihrem Gewissen verpflichtet sind, erlaubte Frau Merkel vor wenigen Tagen ihrer Fraktion, bei der Ehe für alle nach ihrem Gewissen abzustimmen. Merkel erlaubt also, was gar nicht verboten werden darf — allgemein akzeptiert, ohne kritische Bemerkungen, als wäre das das normalste der Welt. Ganz im Gegenteil sind alle aus dem Häuschen, weil Merkel so reagiert hat.

Der Spiegel kommentiert diesen Vorgang so, dass es eigentlich keinen Fraktionszwang geben dürfe, dass es ihn de facto aber schon gäbe. Druckmittel der Partei, um die Fraktionsmitglieder auf Parteilinie zu bringen, sei die Aufstellung der Listen für die nächsten Wahlen. Es dürfe aber keinen Druck auf Parlamentarier ausgeübt werden, denn sie sind ja nur ihrem Gewissen unterworfen usw. usf. Ein kritisches Fazit aus dieser untragbaren Situation zieht der Spiegel nicht, sondern lässt den Leser zurück, als wäre diese Situation naturgegeben und nicht weiter kritisierenswert.

Im Klartext heißt das aber doch (was natürlich bekannt ist, aber eigentlich nicht sein darf), dass Parlamentarier gezwungen werden, gemäß der Parteilinie abzustimmen, da sie sonst keine Chance mehr haben, in das Parlament gewählt zu werden. (Außer, sie schaffen es, ein Direktmandat zu erlangen. Aber auch dazu bedarf es zumindest der Unterstützung der Parteibasis des Wahlkreises.)

Dieses Verfahren wird umso abenteuerlicher, je stärker sich Parlamente zu Berufsparlamenten mit Berufspolitikern entwickeln, denn dann hängt von der Partei die persönliche Existenz ab. Und bevor Arbeitslosigkeit droht, stimmt man dann doch einfach so ab, wie es die Partei will – auch wenn das Gewissen eine ganz andere Entscheidung verlangen würde.

Was ist das Grundgesetz aber Wert, wenn es ganz offen sogar vom Gesetzgeber und der obersten Exekutive, der Regierung, schlicht ignoriert wird? Der große Lauschangriff, Hartz IV und viele andere weitreichende parlamentarische Entscheidungen wären wahrscheinlich anders ausgefallen, hätten die Parlamentarier ohne Existenzangst ihre Gewissensentscheidung treffen können. Doch Parteilinie war wichtiger und natürlich der eigene Arbeitsplatz.

Wahrscheinlich ist so etwas wie Fraktionszwang nie ganz auszuschließen. Es wird immer Druckmittel geben, Menschen zu einem bestimmen Abstimmungsverhalten zu bringen. Eigentlich wäre es dann aber naheliegend, die existenzielle Abhängigkeit der Parlamentarier von ihren Parteien und Fraktionen zu reduzieren. Eine einfache Möglichkeit wäre, die Abordnung in Parlamente zeitlich zu befristen auf ein oder zwei Legislaturen. Das hätte nicht nur den Vorteil, dass Parlamentarier nicht mehr Politik als Hauptberuf ausüben würden, sie wären wahrscheinlich in vielen ihrer Entscheidungen auch viel mehr an der Lebenswirklichkeit der Personen dran, die sie vertreten. Denn wenn ein Parlamentarier als Berufspolitiker Jahrzehnte im Parlament sitzt, gut verdient, gut abgesichert ist, sogar für Angestellte Geld erhält, meist privat krankenversichert ist und nicht in die gesetzliche Rente einzahlt, wie sollte er ermessen können, was es heißt, arbeitslos zu werden, Hartz IV zu beziehen oder mit einer Renten auf einem Niveau von weniger als 50% auszukommen?

Oft hört man, dass die Entscheidungen im Parlament aber inzwischen so komplex seien, dass viel Sachverstand notwendig wäre. Das widerspricht aber doch einem Parlament, denn hier sollen ganz normale Menschen Entscheidungen für alle anderen ganz normalen Menschen treffen. Parlamentarier müssen wirklich keine Spezialisten sein. Dazu gibt es die Verwaltung. Parlamentarier sind dazu gewählt worden, Entscheidungen nach ihrem Gewissen zu treffen. Und das dürfen Sie heute nicht. Ich finde, dass das ein großes Problem in unserem demokratischen System ist, denn ich wähle ja nicht nur Parteien, sondern auch direkt Menschen, weil ich ihnen glaube und vertraue. Doch wenn diese eh nicht so entscheiden dürfen, wie sie wollen, weil sie ansonsten Ärger kriegen, warum sollte ich dann noch wählen gehen? Auch dieses Verfahren stützt die Verdrossenheit der Bürger bei Wahlen und sorgt für immer geringere Wahlbeteiligung und Legitimierung der Parlamente und ihrer Entscheidungen.

Einige wenige Parlamentarier gibt es, die unter der Fraktionsdisziplin stark leiden und ihre abweichende Meinung bei Entscheidungen auch klar äußern. Marco Bülow, ein direkt gewählter Bundestagsabgeordneter der SPD, gehört hierzu. In einem sehr sehenswerten Interview mit Thilo Jung erzählt er aus seinem parlamentarischen Alltag und auch anderen undemokratischen Verfahren, denen er unterworfen ist.

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