Kommentar zur repräsentativen #s21 Lügenpackbefragung des sog. „Kommunikationsbüros“

Als seriöser Marktforscher, der ich tagtäglich mit Kundenbefragungen zu tun habe, kann ich mich nur wundern, wie das Leipziger Institut für Marktforschung eine derart unseriöse Auftragsforschung übernehmen konnte wie die des sogenannten Kommunikationsbüros, die gestern in den Medien veröffentlicht wurde und den Eindruck erweckt, als ob die Mehrheit der Bevölkerung auch in Stuttgart klar für S21 sei. Natürlich ist die Stuttgarter Presse gleich darauf angesprungen und plappert – erneut vollkommen kritiklos – die veröffentlichte Pressemitteilung der Bahn nach (http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stadt-vs-land-umfrage:-mehrheit-fuer-stuttgart-21.a71ad1cc-542e-49a2-8205-2f3be93605e8.html).

Normalerweise unterliegen Marktforschungsinstitute den Standesregeln des Berufsverbands BVM bzw. ESOMAR. Im „ICC/ESOMAR internationaler Kodex für die Markt- und Sozialforschung“ heißt es (nachzulesen unter http://www.bvm.org):

„Artikel 1 – Grundprinzipien
(a) Marktforschung muss legal, redlich, wahrheitsgemäß und objektiv sein und in Übereinstimmung mit angemessenen wissenschaftlichen Prinzipien durchgeführt werden.
(d) Marktforschung muss klar von nicht-forschenden Tätigkeiten unterschieden und getrennt werden, einschließlich aller kommerzieller Tätigkeiten, die auf Einzelpersonen abzielen (z. B. Werbung, verkaufsförderung, Direktmarketing, Direktverkauf usw.).“

Darüber hinaus gibt es anerkannte Standards, nach denen sich Marktforschungsinstitute richten müssen, niedergelegt in den „Standards zur Qualitätssicherung in der Markt- und Sozialforschung“:

„Gewöhnlich wird die Forschungskonzeption in einen Fragebogen oder Leitfaden umgesetzt. Man muß davon ausgehen, daß die Fragestellungen des Auftraggebers immer der Transformation in Forschungsfragen bedürfen. Hierin liegt eine besondere Leistung des Markt- und Sozialforschers. Die Forschungsfragen müssen dem Denken und Verständnis der Befragten entsprechen. Bei neuen Fragestellungen empfiehlt es sich, zunächst in einer Pilotuntersuchung die relevanten Aspekte des Problems zu erfassen und ein Hypothesengerüst für die eigentliche Untersuchung zu entwickeln.
Inhalt und Aufbau des Fragebogens können den Erkenntniswert der Untersuchungsergebnisse beeinflussen. Deshalb ist die mögliche Wirkung der Formulierung und Abfolge der einzelnen Fragen auf die Untersuchungsergebnisse bei der Umsetzung der Forschungskonzeption zu berücksichtigen.“

Gerade bei den Standards zur Qualitätssicherung sind Zweifel berechtigt, ob das Institut hier ordentlich gearbeitet hat. Vor dem Hintergrund des langanhaltenden Streits zwischen Befürwortern und Gegnern hätte sich das Institut zumindest besser informieren müssen, bevor es folgende Fragen in den Fragebogen übernahm:

„Halten Sie es für sinnvoll, eine solche Abstimmung durchzuführen, nachdem der Bau an verschiedenen Stellen bereits begonnen hat?“ Die Akzeptanz einer Volksabstimmung ist eine prinzipielle. Der Nachsatz impliziert, dass es bereits eigentlich zu spät wäre und man mit der Abstimmung eh nichts mehr ändern könnte. Dass hier eine andere Antwortverteilung entsteht, als wenn man nur den ersten Halbsatz als Frage stellen würde, ist klar.

„Wenn Sie sich das Bahnprojekt als eines unter anderen großen Infrastrukturprojekten in Deutschland vor Augen führen – welche Bedeutung hat es aus Ihrer Sicht insgesamt für den Wirtschafts- und Technologiestandort Deutschland?“ Hier muss man sich fragen, wie ein normaler Bürger die Bedeutung eines regionalen Bahnhofsprojekts für den „Wirtschafts- und Technologiestandort Deutschland“ überhaupt beurteilen können soll. Was ist der „Wirtschafts- und Technologiestandort Deutschland“? Nach welchen Kriterien sollte diese „Bedeutung“ gemessen werden? Das sind leere Phrasen, die keinerlei Erkenntnisgewinn erbringen und in seriöser Markt- und Meinungsforschung nichts zu suchen haben.

„Das Land Baden-Württemberg soll für das Teilprojekt Stuttgart 21, also für alle Bauarbeiten in Stuttgart insgesamt rund 800 Millionen Euro zahlen. Ein Ausstieg aus diesem Teil des Bahnprojekts, ohne dass es zu einem Bau kommt, kostet das Land mehr als 1 Milliarde Euro – wäre also teuerer. Ist Ihnen das bekannt?“ Diese Fragestellung suggeriert eine Tatsache, die nicht bewiesen ist und dadurch natürlich zu falschen Antworten führen muss, die niemals die Wirklichkeit widerspiegeln können. Wie teuer ein Ausstieg würde, ist bisher nicht klar – und von über 1 Milliarde Euro spricht fast niemand. Das als Tatsache hinzustellen, ist nicht seriös – und führt eben zu den vom Auftraggeber gewünschten Antworten.

„Sollte das Land unter diesen Umständen einen Ausstieg in Erwägung ziehen?“ Wenn man davor gefragt wird, ob einem bekannt ist, dass der Abbruch teurer sei als der Bau, wird hier jeder rational denkende Mensch natürlich sagen, dass weitergebaut werden soll.

Insgesamt und wie so oft wird nicht zwischen dem Bahnhofsneubau in Stuttgart und der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm unterschieden. Dies ist aber für ein korrektes Meinungsbild unerlässlich. Desweiteren: Je nachdem, in welcher Reihenfolge die Fragen gestellt wurden, wird die Frage: „Sind Sie für oder gegen das Bahnprojekt?“ auch entsprechend unterschiedlich ausfallen. Frage ich es zu Anfang der Umfrage, wird sich ein komplett anderes Bild ergeben als wenn ich diese Frage nach den zahlreichen sehr suggestiven Fragen beantworten soll.

Dies alles lässt nur den Schluss zu, dass das Institut nicht sauber gearbeitet hat und sich zum Handlanger der PR-Abteilung der Bahn und des „Kommunikationsbüros“ von S21 gemacht hat. Die Suggestivität der Fragen muss jedem ins Auge fallen – auch einem Institut, das in Leipzig ansässig ist.

Ich werde als potenzieller Auftraggeber auf jeden Fall bei dem Institut um eine Stellungnahme bitten.

Oben bleiben!

Update: und es gibt sie noch, die guten, überzeugenden Darstellungen über Sinn, Zweck und Nutzen bzw. Unsinn, Unzweck und Unnutzen von S21: http://copywriting.de/archives/913

 

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9 Antworten zu Kommentar zur repräsentativen #s21 Lügenpackbefragung des sog. „Kommunikationsbüros“

  1. Patrick Bausch schreibt:

    Interessant ist auch der Befragungszeitraum (23.06. – 27.06). Der Verdacht liegt doch auf der Hand, dass das Lügenbüro die Gelegenheit nach der GWM-Belagerung und den schwerstverletzten Polizisten am Schopf gepackt hat und diese Umfrage beuftragte. Ich fress ´nen Besen, wenn die Umfrage bereits davor geplant war.Nach den Erkenntnissen des Spiegel von gestern, sähe das Meinungsbild sicher wieder anders aus.

  2. Weiterbauen schreibt:

    Sie schreien hier schon wieder (nach Vermutungen Ihrerseits) „Lügenpack“. Gleichzeitig nehmen Sie Winfried Hermann in Schutz, der offenbar die Unwahrheit gesagt hat. Er spricht ja selbst sogar von Sprachverwirrung. Das ist nicht glaubwürdig.Die Zahlen der Umfrage bestätigen lediglich die Mehrheit für S21 bei der Landtagswahl (ca. 75% Befürworterparteien) und Trends wie z.B.:http://allfacebook.de/tracking/keinstuttgart21+fuer.s21

  3. Matthias von Herrmann schreibt:

    Vielen Dank für diese detaillierte Analyse. Ich frage bei neuen Umfragen auch grundsätzlich erst nach den Fragestellungen. Das ist eine der Grundlagen, die man im Politikstudium mitbekommt.

  4. Zwuckelmann schreibt:

    @Weiterbauen: Ihr regelmäßiger Verweis auf eine Facebook-Statistik zeigt, dass Sie von Umfragen, Statistik, Validität und Reliabilität als Gütekriterien in der Markt- und Meinungsforschung ganz offensichtlich nicht viel wissen. Ich schreie übrigens nicht Lügenpack, sondern schaue mir die von der Bahn kommunizierten Umfrageergebnisse kritisch an und hinterfrage diese. Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten erfüllt diese Umfrage einfach nicht den basalen Standards der Branche und ist daher weder zitierfähig noch glaubwürdig noch in irgendeiner Weise aussagekräftig.

  5. Weiterbauen schreibt:

    Entweder ich habe was an den Augen, oder sie haben doch Lügenpack geschrieben: Im Titel: LügenpackbefragungAls Artikel-Tag: LügenpackAuf meinen Vorwurf, dass sie unterschiedliche Maßstäbe anlegen, gehen sie natürlich in Ihrer Antwort nicht ein.

  6. Herr Bergmann schreibt:

    @Weiterbauen: Vielleicht hätte das Leipziger Institut für Marktforschung sich die Arbeit viel, viel einfacher machen sollen: Man hätte sich an irgendeiner x-beliebigen Stelle auf der Stuttgarter Gemarkung hingestellt und ganz einfach die Buttonträger gezählt. Wie hätte das Ergebnis wohl ausgesehen? Also ich habe in diesem ganzen Kalenderjahr erst ein einziges Auto mit einem Pro-Aufkleber gesehen. Finde ich schon seltsam, dass diese vielen, vielen Facebook-Proler nur virtuell pro sind und nicht im realen Leben. Da überrascht es mich einfach, wie sicher das Leipziger Institut die Proler in der Menge erkannt hat.

  7. Weiterbauen schreibt:

    @Zwuckelmann Ich schrieb über den Trend der Facebook-Statistik. Mit Trend meine ich Veränderung über die Zeit. Erste Ableitung nach der Zeit. Dass diese repräsentativ ist, habe ich nie behauptet. Das ist sie ganz sicher nicht. Aber den Änderungsraten würde ich durchaus eine gewisse Aussagekraft zugestehen. Nein, nicht in den exakten Proportionen.Die Summe aus Umfragen und Landtagswahlergebnis (ca. 75% Befürworterparteien) lässt aber doch gewiss den Schluss zu, dass sie nicht sicher von einer Mehrheit gegen S21 sprechen können. Um es mal so defensiv wie möglich zu formulieren.

  8. stadtmensch schreibt:

    Wieso bezeichnen Sie sich als seriöser Marktforscher? Gibt es irgendwo eine überprüfbare Studie für die Behauptung?Gruß

  9. Zwuckelmann schreibt:

    @stadtmensch: nein, eine überprüfbare Studie gibt es nicht – sie mögen meine Aussage bezüglich meiner Seriosität deshalb glauben oder nicht.

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