Im falschen Leben

Es ist kein Geheimnis, dass unsere westliche Lebensweise und unser kapitalistischer Wohlstand teuer erkauft ist – nicht für uns teuer, ganz im Gegenteil, sondern für die Länder, die uns diese Lebensweise erst ermöglichen. Die Länder, die unseren Außenhandelsüberschuss als Schulden abtragen müssen. Die Länder, in die wir als drittgrößter Exporteur der Welt Waffen verkaufen – wohlwissend, dass mit diesen Waffen natürlich auch Krieg geführt wird. Die Länder, die für uns wertvolle Ressourcen besitzen und die ihre Eigenständigkeit und ihren bescheidenen Wohlstand verlieren, weil unser Hunger nach diesen Rohstoffen so groß ist, dass wir regelrecht über Leichen gehen. Die Länder, die aus geostrategischen Gründen von uns »destabilisiert« werden, indem terroristische Vereinigungen unterstützt werden oder wir gleich selbst bestimmen, welche Gruppierung dort die Regierungsmacht erhält oder in denen wir schlicht Krieg führen oder führen lassen. Die Länder schließlich, die sogar um ihre Staatsgebiete und damit um ihre bloße Existenz fürchten müssen, weil der von uns maßgeblich vorangetriebene Klimawandel die Meeresspiegel so stark ansteigen lässt, dass alles im Meer zu versinken droht.

Dies alles ist kein Geheimnis. Und auch die Folgen sind kein Geheimnis: weltweite Armut, Krisen und Kriege und in deren Gefolge eine riesengroße Fluchtbewegung. Umso erschreckender ist, mit welcher Chuzpe westliche Politiker diese Kausalitäten verschweigen, einer gottgegebenen Globalisierung zuschreiben, oder sie sogar ganz negieren. Und mit ihnen eine weitgehend unkritische Presse- und Medienlandschaft. Und wenn doch einmal hässliche Auswirkungen unserer Lebensweise nahe an uns heranrücken, wie beispielsweise in Griechenland oder Portugal geschehen, wird alles dafür getan, Zusammenhänge zu verdrehen und Kausalitäten zu verkehren. Das Opfer wird mit aller Macht zum Schuldigen gemacht.

Würden die tatsächlichen Kausalitäten in all ihrer realen Dramatik und erschreckenden Reichweite öffentlich anerkannt, würde das den westlichen Lebensstil massiv in Frage stellen. Die Grundfeste unseres neoliberalen Ethos vom ewigen Wirtschaftswachstum geriete ins Wanken — und damit natürlich auch der eingeflüsterte Traum der westlichen Welt: jetzt alles immer billig! Das Kilo Schweinefleisch für 0,99 Euro, die Jeans für 6 Euro, das Pfund Kaffee für 2,99. Und wenn etwas nicht mehr gefällt oder schlecht geworden ist, wird es weggeworfen und einfach durch etwas neues ersetzt. Ist ja alles so schön billig. Für uns. Das Prinzip Brot und Spiele wirkt noch heute, deshalb reden wir lieber nicht über die realen Kosten unseres Konsumwahnsinns.

Die klar neoliberal geprägte, konservative Deutungshoheit von Politik und Medien wird aktuell wieder besonders deutlich, wenn man die Diskussionen um die Flüchtlinge verfolgt. Selbst kluge Köpfe jenseits von CDU/CSU, SPD und FDP bringen es fertig, Zäune und Abschottung, zumindest aber eine harte Kontingentierung der Zuwanderung durch Flüchtlinge zu fordern. Manche, wie zum Beispiel das Attac- und grüne Gründungsmitglied Eckhard Stratmann-Mertens, gestehen zwar ein, dass die Bewältigung der Flüchtlingsströme für uns tatsächlich weder finanziell noch bürokratisch ein Problem wären. Aber: man könne doch der Bevölkerung nicht zumuten, dass so viele Flüchtlinge nach Deutschland, nach Europa kämen. Diese wäre überfordert.
Derselbe Politiker, der allen Ernstes quasi mit der »Psychologie der deutschen Volksseele« argumentiert, gibt in demselben Artikel an späterer Stelle zu, dass die Auswirkungen unserer Lebensweise in vielen Ländern oft auch Fluchtursache sind. Die Kausalität wird zwar angedeutet, aber auf die sich aufdrängende logische Konsequenz, unsere Lebensweise zu ändern und dadurch die Fluchtursachen anzugehen, kommt dieser Politiker nicht und fordert stattdessen Zäune.

Die Fluchtursachen werden auch in dem Medien kaum thematisiert. Man könnte fast den Eindruck bekommen, als ob wir mit den Ursachen überhaupt nichts zu tun hätten. Ein reines Naturereignis, Europa wird von einer »Lawine« überrascht und überrollt, unschuldig und fromm. Eine insgesamt äußerst zynische Debatte und Berichterstattung, die auf den eh schon gepeinigten Schultern der Flüchtlinge ausgetragen wird.

»Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Dieses Adorno-Zitat trifft auch auf die aktuelle politische Situation in Bezug auf die Flüchtlinge zu. Denn anstatt die zu einem großen Teil von den westlichen Industrienationen mitverantworteten Ursachen für die Flüchtlingsströme anzuerkennen und daraus die Konsequenzen zu ziehen, also Verantwortung für unser Handeln, für unsere Lebensweise zu übernehmen, ist das einzige Bestreben der deutschen und europäischen Politik, die Flüchtlinge möglichst fern zu halten, um dann genau so weiter zu machen, wie bisher. Man schreckt nicht einmal vor billigem Geschacher zurück und stellt der Türkei die Aufnahme in die EU in Aussicht , wenn sie nur für uns die Flüchtlinge aufhält. Damit ist nichts gelöst, keine Ursache wird dadurch verändert, alles soll so weitergehen, wie bisher. Wir kaufen uns frei, erkaufen uns erneut Zeit, damit wir uns nicht eingestehen müssen, wofür wir zum großen Teil mitverantwortlich sind. Das ist schäbig und unverantwortlich – und ganz nebenbei auch absolut nicht christlich.

Die aktuellen Bestrebungen, die Grenzen zu schließen und das »Flüchtlingsproblem« in andere Länder abzuschieben, ist deshalb ein Skandal, weil in all den Überlegungen keine Sekunde die Ursachen thematisiert und unsere Verhaltensweisen problematisiert werden. Würde Deutschland seine Rüstungsexporte in Frage stellen, würden wir einmal öffentlich und in breiter Diskussion danach fragen, welche irrsinnigen Auswirkungen unser Lebensstil in anderen Ländern verursacht (sozial, politisch oder auch klimatisch), würden wir auch nur einen Augenblick öffentlich anerkennen, dass wir auf Kosten eben jener Flüchtlinge leben, die nun zu uns kommen, wären die jetzigen Abkommen vielleicht zu rechtfertigen. Ohne eine derartige Diskussion, ohne ein derartiges Eingeständnis aber wird so getan, als hätten wir keinerlei Verantwortung an der Flüchtlingssituation, als ginge es uns nichts an und als könnten wir mit allem Recht das Flüchtlingsproblem selbst abschieben. Doch dieses Recht haben wir schlicht nicht, denn es gibt kein richtiges Leben im falschen.

P.S. Und nun führen wir sogar „Krieg“ (Flinten-Uschi bittet darum, dies im umgangssprachlichen Sinne zu verstehen) gegen den IS, werden analog zu Afghanistan noch mehr Armut und Elend und Tod in eine nicht zur Ruhe kommenden Region bringen – und wundern uns dann, wenn wir weiterhin Ziel von Anschlägen sind. Manchmal scheint es so, als hätte die westliche Welt ihr Hirn abgestellt, als wäre Rationalität ein unverständliches Fremdwort geworden und Logik und Kausalität aus den Köpfen verbannt.

 

P.P.P.P.P.P.P.S Und am Rande sei erwähnt, dass in Stuttgart erneut unrechtmäßig ein uralter Baum, eine wunderschöne Trauerweide gefällt wurde, weil sie der neoliberalen Wirtschaftslogik im Rahmen von Stuttgart 21 im Wege stand. Wirtschaftliche Gründe stehen hier inzwischen zu oft über Recht und Gesetz – aber nicht einmal den grünen Oberbürgermeister scheint das zu jucken. Oh, what a world …

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2 Antworten zu Im falschen Leben

  1. Pingback: 300. Montagsdemo – und kein Ende! | Schwabenstreich Calw

  2. Nico schreibt:

    Stimmiger Beitrag, dem ich mich anschließe.

    Diese Weltregion in der wir auch im Geiste leben heißt „der Okzident“, das Abendland, der Westen.

    Das schöne Wort „Orientierung“ stammt ab von „der Orient“. Dort scheint mehr Orientierung vorhanden zu sein, als im „Okzident“.

    Aufklärung, Bildung, Erziehung, Ideale, Leitbild. Wozu sind diese gut? Wenn die Zustände, wie im Beitrag aufgeführt, so sind?

    Eine hohe „Ignoranzdichte“ ist wichtig, damit der Wunsch nach dem Paradies unerkannt bleibt.

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